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Liebe tötet, Liebe (h)eilt!

(aus dem Ausstellungskatalog des FDK.e.V. Zu den DisburgerAkzenten 1992)

 

Helmut Junge (Gedanken zum Thema)

 

Liebe tötet?

Das Phänomen Liebe erschließt sich dem Nachdenklichen nur allmählich. Da ist

zunächst die Nichteindeutigkeit des Begriffes selbst.

Sicher, Liebe ist nur ein Wort, aber ein Wort mit vielen Bedeutungen. Da gibt es

die Mutter-Kind-Beziehung, die Nächstenliebe, die Liebe zum Sexualpartner, die

Liebe zur Natur, zu abstrakten Begriffen wie dem Vaterland und zum Detail. Ein

Wort für viele Gelegenheiten. Ein wichtiges Wort? Vielleicht. Aber wenn, dann

selten. Für wichtige , häufig benutzte Begriffe hat die deutsche Sprache großen

Variantenreichtum entwickelt. Für das Wort "Geld" existieren mindestens zwanzig

verschiedene Begriffe aus der Umgangssprache. Also viele Wörter für eine einzige

Sache. Daraus allerdings den Schluß ziehen, daß die Deutschen eine intensivere

Beziehung zum Geld als zur Liebe hätten, möchte ich nicht wagen.

Der erste, von dem wir genau wissen , daß er sich mit dem Begriff der Liebe

und der Sache, die dahinter steckt, befaßt hat, war der griechische Philosoph Empedokles.

Dessen bekanntere 4-Elemententheorie (Erde - Feuer-Wasser -Luft)

konnte erst im vorigen Jahrhundert widerlegt werden, und auch das, was er über

die Liebe zu sagen hatte, hat viele große Geister nach ihm beschäftigt. Diese erstaunliche Persönlichkeit, die unter anderem die ihm angetragene Königswürde

entschieden abgelehnt hat, kam zu dem Schluß, daß die Liebe mit und gegen ihren

Gegenspieler, dem "Streit", die Geschehnisse dieser Welt diktiert.

Empedokles glaubte an ein dualistisches Prinzip, wie es auch aus der iranischen

Mazda-Religion und aus dem chinesischen Prinzip des Ying und Yang bekannt ist.

Er sah Liebe und Streit, die er für ewige Prinzipien hielt, abwechselnd die Herrschaft ausüben. Aristoteles bemerkt dazu: "Wie Empedokles sagt, werden die

Dinge abwechselnd in Bewegung und wieder in Ruhe versetzt; bewegt werden sie,

wenn die Liebe aus der Vielfalt die Einheit oder der Streit aus der Einheit die

Vielfalt herstellt; dagegen ruhen sie in den Zwischenzeiten."(1) Danach würde die

Liebe Ruhe und der Streit Bewegung bewirken. Klarer kommt dies in einem Zitat

von Theophrast zum Ausdruck: " Es ergibt sich aber, daß auch unter der Herrschaft der Liebe überhaupt keine Sinneswahrnehmung möglich ist oder doch nur

in geringem Grade, weil sich die Stoffe dann (noch) vereinigen und keine Ausflüsse

von ihnen erfolgen." (2)

Wenn dann die Herrschaft der Liebe zu Ende ist, trennt der Streit die Vereinigungsmasse; es entsteht wieder Bewegung. Empedokles selbst: "Denn

sämtliche Glieder des Gottes wurden der Reihe nach erschüttert." (3)

 

 

Der Dualismus des Empedokles ist vom Menschen nicht beeinflußbar und erklärt

auch nicht die Differenziertheit des menschlichen Handelns. Der Mensch ist frei in

seinen Handlungen und paßt nicht in dieses System. Immanuel Kant kommt zu

dem Schluß, daß Liebe eine freie Entscheidung des Geistes sein muß. (4)

Die klügsten Gedanken passen nicht zusammen. Was nun?

Da die Liebe als soziales Phänomen prinzipiell ans Leben gekoppelt ist,müssen

wir notgedrungen unsere Erkenntnisse aus der Beobachtung des Lebendigen ziehen.

Fragen wir, was ist meßbar?

Die einzige meßbare Äußerung der Liebe ist der Verzicht. Im Rahmen des alltäglichen

Überlebenskampfes sollte kein Platz für Verzicht, zumal für freiwilligen Verzicht sein.

Doch die Natur, die Evolution kümmert sich nur um die Erhaltung der Art, nicht

ums Individuum. Im Sinne der Arterhaltung ist individueller Verzicht aber manchmal

doch vorteilhafter als Eigennutz.

Mit der Erfindung der Brutpflege, die für das Individuum Verzicht, oft bis zur

Selbstopferung bedeutet, war das Urprinzip der Liebe geboren. Die Liebe erscheint

als neue Qualität, ist jünger als die Aggression, also ein Fortschritt!

Die schuldlose Opferung des Erlösers ist zentraler Glaubensinhalt des Christentums. Ich will die Bedeutung des Hasses, der Aggression nicht leugnen. Haß ist

der Anlaß zu einem Teil dieser Ausstellung. Aber Haß wirkt regressiv, tötet, ohne

die Ursache zu beseitigen, kann also nicht Hauptkraft, nicht gleichwertig sein mit

der Liebe. Mit anderen Worten: Die Liebe muß stärker sein als der Haß, sonst

gibt es keinen Fortschritt, keine Evolution und damit auch keine Menschheit. Das

aber bedeutet, daß Empedokles Unrecht hatte mit der Behauptung : unter der

Herrschaft der Liebe wären überhaupt keine Sinneswahrnehmung möglich, weil

"alles verschmilzt" und darum" keine Ausflüsse aus den Stoffen" erfolgen können.

Demnach wäre der Endzustand der Liebe Ruhe, Stillstand, der Tod.

Alle Bewegung ginge vom Haß aus.

Es ist nicht erstaunlich, daß die Vorstellung, der Krieg wäre der Vater aller Dinge,

auch heute noch in den Köpfen vieler Politiker herum spukt.

Doch Haß bildete niemals die Grundlage für ethische oder moralische Normen.

Ist es nicht so, daß die von der Liebe geprägten ethischen, moralischen Wertungen immer so ausgelegt, zurecht gefeilt wurden, daß sie den jeweils Herrschenden

auch im Fall schlimmster Verbrechen die Legitimität zusprachen. Haben Herrscher

zu ihre Rechtfertigung nicht auch immer die Kernaussagen der Religionen verbogen?

"Der sittlichen Rigorosität der Bergpredigt steht die Anerkennung der Ordnungskräfte (Römer,13 ) gegenüber. Dieser Widerspruch wurde durch die Lehre vom

Bellum iustum ( gerechtem Krieg) aufgefangen. (5)

 

 

Die christliche Religion beginnt mit der Forderung nach Nächstenliebe und gipfelt

im freiwilligen Opfertod des Religionsgründers am Kreuz.

Dieser Vorgang ist so ungeheuerlich, daß viele Nichtchristen nicht an die Freiwilligkeit glauben wollen. Andere, ( Siegm. Freud (6) ), vermuten zumindest ein im

Unterbewußtsein verankertes Schuldbewußtsein des Hauptübeltäters.

Nachprüfbar an dieser Angelegenheit ist allein die Tatsache, daß der Gedanke der

freiwilligen Selbstopferung solch enorme Wirkung in den Köpfen der Menschen

verursacht hat, daß es die Menschen noch nach zweitausend Jahren beschäftigt.

Es ist der Hunger nach Liebe, der unvorstellbaren Kraft, die auch gelegentlich

materielle Gewalt besiegt. Mahatma Gandhi, ein einzelner nackter Mensch, bekleidet

nur mit einem Lendenschurz, hat es fertig gebracht, das gewaltige britische Empire

zu erschüttern. Wieder einer, der freiwillig leidet, stellvertretend für andere.

Wie erbärmlich sind dagegen die Resultate des Hasses; Krieg, Leid, Elend, Trümmer, Zerstörung endlos, grenzenlose Trauer. Der Haß ist Stillstand, ist regressiv.

Wenn es wirklich den ewigen Kampf gäbe, von dem Empedokles spricht, dem

Kampf vom Guten gegen das Böse, dann, scheint mir, ist die Liebe stärker, ist sie

es, die Bewegung erzeugt.

Der Haß ist niemals eine Lösung. Kein Kubikcentimeter Atmosphäre wird wieder

mit Ozon gefüllt, wenn unten auf der Erde die Menschen sich gegenseitig die

Köpfe einschlagen. Der Krieg ums Öl hat soviel Lebensraum vernichtet, daß nur

kurzsichtige Interessenten von einem Sieg reden können. Die Frage, wieviele solcher Siege die Menschheit sich noch leisten kann, gebe ich weiter an König Phyrrus der sich bekanntlich zu Tode gesiegt hat.

Wenn Aggressivität einen, wenn auch noch so kleinen Vorteil geboten hätte, dann

wäre in den 450 Millionen Jahren, seit es Leben gibt, längst das superaggressive

Raubtier entstanden, gegen das unsere gezüchteten Kampfhunde wie verspielt wirken

würden. Die Natur hätte die Fähigkeit dazu gehabt. Aber, die Evolution hat nicht

zu Kampfhunden und Killerbienen geführt. Lediglich einzelne, psychisch erkrankte

Tiere zeigen manchmal stark aggressives Verhalten. Sie werden von Artgenossen

gemieden und haben meist keine hohe Lebenserwartung.

Verhaltensforscher streiten sich um die Antwort auf die Frage, ob Aggressivität

angeboren oder anerzogen ist. Der berühmte Konrad Lorenz (7) glaubt u.a. aus

dem gegenseitigem aggressiven Revierverhalten männlicher Kampffische im Aquarium

den Schluß ziehen zu können, daß es eine universelle Veranlagung zur Aggression

gebe. Andere Wissenschaftler glauben das nicht und finden Beweise dafür, daß

Aggressivität anerzogen bzw. reaktiv sein muß So entwickeln verschiedenrassige

Kinder, die gemeinsam aufgewachsen sind, später als Erwachsene fast vollkommene Immunität gegen rassistisches Gedankentum. (8)

 

 

Aus dem Tierexperiment gibt es die noch viel weiterreichendere Erkenntnis, daß

es sogar zu Verbrüderungen mit dem natürlichem Beutetier kommen kann.

Würde Aggressivität wirklich angeboren , die Liebe dagegen ein Willensakt sein,

dann hätten Idi Amin und Adolf Hitler eine gute Ausgangsbasis für moralische

Rechtfertigungsversuche. Deshalb sind interessierte Kreise auch immer der Faszination dieser Möglichkeit erlegen gewesen.

Der arme Charles Darwin konnte es nicht verhindern, daß deutsche National-

sozialisten seine Evolutionstheorie so verdrehten, daß sie ihrem Rassenwahn damit

eine anscheinend wissenschaftliche Grundlage geben konnten.

Solche Rechtfertigungsversuche sind typische Begleiterscheinungen der Gewalt. Aus

Scham wegen ihres schmutzigen Handwerks haben Henker sich ihr Gesicht bedeckt.

Darum war Öffentlichkeit auch immer die wirkungsvollste Waffe gegen Gewalt.

In der heutigen Zeit ist es modern, sich eine von Menschen überfüllte Erde vorzustellen. Natürlich liegen auch hier schon Ergebnisse aus Tierexperimenten vor.

Sperrt man viele Ratten auf sehr engem Raum zusammen, fallen diese bald übereinander her und zerfleischen sich. Von Lemmingen weiß man, daß diese ihr

Überbevölkerungsproblem auf andere, sehr eigenwillige Weise lösen.

Doch das sind Beobachtungen an Tieren, wie steht`s mit dem Menschen?

Der Mensch steht über der Ratte !?

Lemminge und Ratten wissen nie eine Antwort auf Veränderungen ihrer ökonomischen Basis. Sie sind Teil eines großen ökonomischen Projektes, nicht der Dirigent.

Dirigenten gibt es auf der Erde jetzt zwei, die alte Mutter Natur, und neuerdings

den Menschen mit seiner eigenen Partitur.

Die dadurch entstehende Disharmonie zwingt viele Zuhörer aus dem Saal. Die

Musikanten verlieren rasch ihr Publikum. Der eine Dirigent, die Natur, wird weiterspielen. Sie ist nicht abhängig vom Eintrittsgeld. Sie braucht auch den Menschen nicht. Doch wie bewältigt dieser die von ihm selbst geschaffenen Probleme?

Kriege, Ausbeutung, ökologische Katastrophen, Raubbau an der Natur, Mißwirtschaft führten und führen fortwährend zu einer Verarmung der Natur und des

Menschen, vor allem in der so genannten Dritten Welt. Gleichzeitig ist aber der

Wohlstand in der so genannten Ersten Welt ( Als wenn es wirklich mehrere davon

gäbe), so gigantisch angestiegen, das der Konsum wegen seiner Größenordnung

bereits selber zum Problem geworden ist. Beide Ereignisse gehören zusammen. Die

Konsequenz aus dieser ungleichen Entwicklung, die die einen immer reicher und

die anderen immer ärmer werden läßt, ist eine globale Völkerwanderung des

mobilsten Teils der Bewohner des armen in den reichen Gürtel dieser einen Welt.

Obwohl diese Zuwanderung Folge und nicht Ursache der Gleichgewichtsverschiebung ist, kommen bei einer Minderheit unserer Mitbürger alte, tot geglaubte

fremdenfeindliche Denkstrukturen wieder zum Vorschein.

Der Künstler kann nicht die Probleme unserer Zeit lösen, aber er hat häufig eine

höhere Sensibilität für emotionale Veränderung in seiner Umgebung, für den Zeitgeist, als andere Menschen. Daraus erwächst ihm ein hohes Maß an sozialer Verantwortlichkeit. Er kann mit seinen Mitteln andere Menschen zum Nachdenken

zwingen.

 

In diesem Zusammenhang lesenswerte Literatur:

(1),(2),(3) Die Vorsokratiker (Kröner 1968)

(4) Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Philipp Reclam jun.)

(5) Großes Meyers Taschenlexikon

(6) S. Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Gottestheorie

(7) K. Lorenz (Das so genannte Böse)

(8) Josef Rattner, Aggression und Menschliches Verhalten (Fischer Taschenbuch)

 

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Helmut Junge

 

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